Die Herren der Welt in Not

Zu den Beschlüssen des Verwaltungsgerichts Berlin zu Zurückweisungen an der deutschen Grenze)

(6. Juni 2025)

 

Am 2. Juni 2025 hat das Verwaltungsgericht (VG) Berlin in drei Eilverfahren (Az. 6 L 191/25 u. a.) die von Innenminister angeordnete Zurückweisung Schutzsuchender für rechtswidrig erklärt und die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, den Antragstellern den Grenzübertritt in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten und das Dublin-Verfahren durchzuführen.

Zumindest eine der Entscheidung ist inzwischen im Volltext veröffentlicht und im Internet abrufbar (etwa unter https://openjur.de/u/2523392.html).

Die Reaktion der Bundesregierung erfolgte umgehend und enthielt zwei Einwände gegen eine Bindung an die Entscheidungen: „Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist und werden deswegen weiter so verfahren - ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung", erklärte Innenminister Dobrindt vollmundig. Und weiter: "Wir streben das Hauptsacheverfahren an", so der Minister. "Es handelt sich ja um einen Eilbeschluss." Der innenpolitische Sprecher der CDU meinte nach dem obligatorischen Hinweis, man werde die Beschlüsse genau prüfen: „…klar ist aber auch, dass es Einzelfallentscheidungen ohne allgemeine Wirkung sind.“ (tagesschau.de v. 2.6.25).

II. Juristisches

Der erste Einwand, es handele sich ja nur um eine Einzelfallentscheidung, kann in zweierlei Weise verstanden werden. Zielte er darauf, dass die Entscheidung eine solche minderer Qualität oder Relevanz sei, weil sie ja nur in einem Einzelfall ergangen ist, handelte es sich bereits deshalb um ein gänzlich untaugliches Argument, weil nach deutschem Prozessrecht – von wenigen, hier nicht zutreffenden Ausnahmen abgesehen – gerichtlicher Rechtsschutz und damit gerichtliche Verfahren der Durchsetzung individueller Rechtspositionen dienen und somit jede gerichtliche Entscheidung zwangsläufig eine Einzelfallentscheidung sein muss.

(Selbst die mit dem von Dobrindt erwähnten Hauptsacheverfahren angestrebte „höchstrichterliche“ Entscheidung wäre eine „Einzelfallentscheidung“, auch das Bundesverwaltungsgericht würde nur über die Rechte der Klägerin XY gegenüber der Bundesrepublik entscheiden. Auch wenn einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts größeres juristisches Gewicht zukäme, geht es beim Hinweis auf die Einzelfallentscheidung um etwas ganz anderes, nämlich die Hoffnung, ein höherinstanzliches Gericht werde gegenteilig, nämlich im Sinne der Regierung entscheiden.)

Näher liegt die Annahme, der Innenminister meint, seine Praxis fortsetzen zu können, weil das VG Berlin ja nur hinsichtlich der Zurückweisung der drei antragstellenden Somalierinnen, nicht aber über andere, gar künftige Fälle entschieden habe. Insoweit ist der Hinweis auf die „Einzelfallentscheidung“ zutreffend, da die Entscheidungen, wie es in der Verwaltungsgerichtsordnung heißt, die Beteiligten, also im Eilverfahren die jeweilige Antragstellerin und die Antragsgegnerin, also die Bundesrepublik, bindet. Nur die Antragstellerinnen, nicht aber andere Betroffene können unter Hinweis auf die Beschlüsse des VG Berlin ihren Grenzübertritt erzwingen.

Vorstehendes gilt allerdings nur dann, wenn man lediglich den Tenor der Entscheidung („Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin den Grenzübertritt in den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin zu gestatten…“), nicht aber auch die Begründung der Entscheidung in den Blick nimmt.

Denn diese setzt sich zunächst einmal mit der Frage der Auslegung der einschlägigen Rechtsvorschriften auseinander, schließlich ist nur auf deren Grundlage über den Einzelfall zu entscheiden.

Aus den umfangreichen Ausführungen sind zwei grundlegende Feststellungen des Verwaltungsgerichts hervorzuheben, die auch in der politischen Diskussion der letzten Wochen und seit Ergehen der Berliner Entscheidungen eine prominente Rolle gespielt haben.

1. Zum Verhältnis von deutschem und europäischen Recht stellt das Gericht unmissverständlich fest, dass § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch die aufgrund ihres Anwendungsvorrangs vorgehenden europarechtlichen Regelungen der Dublin-III-Verordnung verdrängt wird. Diese Feststellung ist deshalb bedeutsam, weil die Weisung des Innenministers vom 7.5.2025 zur Zurückweisung ausdrücklich und ausschließlich auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG Bezug genommen hat, ohne europarechtliche Regelungen überhaupt nur zu erwähnen.

2. Die zweite Feststellung betrifft die Möglichkeit der Bundesrepublik, sich von ebenjenen europarechtlichen Vorschriften gleichsam loszusagen: „Schließlich kann sich die Antragsgegnerin nicht auf Art. 72 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) berufen, um einen Verstoß gegen Vorgaben aus der Dublin-III-Verordnung zu rechtfertigen.“

Diese, soweit ersichtlich, erstmalig von CDU/CSU und der jetzigen Bundesregierung immer wieder für ihre Zwecke herangezogene, auch als „Notlage“ bezeichnete Vorschrift beinhaltet, dass u. a. die Regelungen des Vertrags über die gemeinsame Asylpolitik nicht die „Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ berühren, will sagen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit ein Abweichen von den Vorschriften etwa der Dublin-III-Verordnung rechtfertigen.

Insoweit heißt es in der Begründung des VG Berlin: „Es fehlt bereits an der hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des Art. 72 AEUV durch die Antragsgegnerin.“ Das ist der Ansatzpunkt für die Behauptung Dobrindts, das Gericht habe lediglich die Begründung bemängelt, mit der allerdings die Entscheidung bewusst missversteht. Sie bedeutet nämlich nicht, dass die Regierung keine Gründe vorgebracht habe, es bedeutet vielmehr, dass die vorgebrachten Gründe nach der – im Übrigen sehr umfangreichen und sorgfältigen Prüfung – die Annahme eine solchen Gefahr nicht rechtfertigen.

Und nach der Lektüre der in der Entscheidung des Verwaltungsgerichts wiedergegebenen Begründung der Bundesregierung für das angebliche Bestehen einer solchen Notlage – von der rechtstheoretisch interessanten Kategorie der „Dysfunktionalität“ der Dublin-Regeln, über die überlasteten staatlichen Unterbringungs- und Sozial- und Integrationssysteme Deutschlands bis zur unvermeidlichen  „hybriden Kriegsführung Russlands und die Nutzung von Flüchtlingen als ‚Waffe‘“ wurden alle Register gezogen – stellt sich die Frage, was die Bundesregierung in einem potentiell weiteren Verfahren noch vorbringen will, um darzulegen, dass sich die Bundesrepublik durch zwei- oder seien es auch dreistellige Flüchtlingszahlen an den Rand ihrer Existenz gebracht sieht. Oder etwa, dass angesichts erheblich zurückgegangener Asylgesuche zahlreiche Flüchtlingsunterkünfte leer stehen und nichts als Mietkosten verursachen?

Bleibt noch der zweite Einwand, es handele sich ja nur um ein Eilverfahren.

Es liegt auf der Hand, dass den die Einreise begehrenden Antragstellerinnen nicht durch ein sich über Jahre hinziehendes Klageverfahren („Hauptsacheverfahren“ á la Dobrindt) gedient wäre. Deshalb ist der verfassungsrechtlich garantierte „effektive Rechtsschutz“ nur in einem Eilverfahren möglich.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat sich auch mit dieser Frage auseinandergesetzt und sauber begründet ausgeführt, dass von dem Verbot, in einem Eilverfahren die Hauptsache, also das Ergebnis eines sich über Monate oder Jahre hinziehendes Klageverfahren vorwegzunehmen, wegen der verfassungsrechtlichen Garantie effektiven Rechtsschutzes dann eine Ausnahme zu machen ist, „wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Antragsteller schwere und unzumutbare, durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht wiedergutzumachende Nachteile in dem Fall drohen, dass die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird.“

Insgesamt handelt es sich bei den Beschlüssen des VG Berlin vom 2. Juni 2025 um äußerst umfangreich und sorgfältig begründete und auch deshalb sehr lesenswerte Entscheidungen.

II. Politisches

1. Durch Gesetz vom 22. März 2025 wurde das Grundgesetz durch den zum damaligen Zeitpunkt bereits abgewählten, rechtlich aber noch handlungs- und entscheidungsbefugten Bundestag geändert. Eingeführt wurde die Befugnis zur unbegrenzten Verschuldung des Bundes für „Verteidigungsausgaben, die Ausgaben des Bundes für den Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie für die Nachrichtendienste, für den Schutz der informationstechnischen Systeme und für die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten“ (Art. 115 Absatz 2 GG) sowie für ein Sondervermögenmit einem Volumen von bis zu 500 Milliarden Euro, von denen für die Bundesländer 100 Milliarden Euro reserviert sind (Art. 143h GG).

So wird die Bundesrepublik auch, wie es die NATO fordert und der Außenminister vorauseilend bereits zugesagt hat, in der Lage sein, künftig 5 % des Bruttoinlandsprodukts, das sind nach heutigem Stand ca. 210 Milliarden Euro jährlich, für Militär auszugeben.

„Die Bundesregierung wird zukünftig alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die die Bundeswehr braucht, um zur konventionell stärksten Armee Europas zu werden. Das ist dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Land Europas auch mehr als angemessen“, so Kanzler Merz in der Regierungserklärung vom 14. Mai 2025.

2. „Gleichzeitig zeigt Deutschland eine verstärkte Präsenz im Indo-Pazifik-Raum und setzt sich gemäß den Indo-Pazifik-Leitlinien der Bundesregierung für die Einhaltung der internationalen regelbasierten Ordnung und des UN (UNCLOS) ein. …Getreu dem Motto des Inspekteurs der Marine, Vizeadmiral Jan C. Kaack, „Regionally routed – Globally committed“, engagiert sich die Deutsche Marine im Indo-Pazifik gemeinsam mit ihren internationalen Partnermarinen für die Freiheit der Meere, also sichere Seeschifffahrtswege und damit ungehinderten globalen Handel,“ tönt die Bundesmarine. (https://www.bundeswehr.de/de/organisation/marine/aktuelles/indo-pacific-deployment-beendet-5864886#:~:text=Am%201.,von%20mehr%20als%20zwei%20Erdumrundungen).

3. Deutschland führt Krieg in der Ukraine gegen Russland. Er hat allein der Ukraine seit Kriegsbeginn nach eigenen Angaben „knapp 48 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt“.

Es trommelt stolz auf seine Brust, wenn es um eine gute Million Menschen aus der Ukraine geht:

„Die Bundesregierung hilft den Menschen aus der Ukraine auf vielfältige Weise. Sie unterstützt die Länder und Kommunen finanziell dabei, Geflüchtete unterzubringen und zu versorgen. Das geschieht etwa durch pauschale Entlastungsbeiträge oder durch die Überlassung bundeseigener Liegenschaften als Unterkünfte.

Ukrainische Geflüchtete sind in Deutschland sozial abgesichert – und es gibt viele weitere Angebote für sie. So hat die Bundesregierung etwa Deutschsprachkurse, Weiterbildungen und andere Eingliederungsleistungen für sie geöffnet. Durch die Jobcenter werden sie auch bei der Arbeitssuche unterstützt.“ (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/deutschland-hilft-der-ukraine-2160274; 5.6.2025).

III. Wie weiter?

Deutschland schickt sich an, zu einem Herrscher der Welt zu werden. Seine Machtansprüche und seine Ressourcen sind nahezu unbegrenzt. Nur die weitere Aufnahme von Geflüchteten gefährdet die innere Sicherheit und Ordnung dieses Staates, bringt ihn in eine wahre Notlage. Das müsste sich doch irgendwie hinreichend rechtssicher begründen lassen…

Dem Krieg im Ausland folgt der an den Grenzen gegen Flüchtlinge.

Wie geht es weiter? Nun, danach wird sich diese Regierung die Armen in diesem Land vorknöpfen…